Gustav Düsing: »Wer stets nur reagiert, bleibt immer der Ausführende.«

Katinka Corts
8. Mai 2024
sunsight to sunclipse, Villa Massimo, Rome 2021 (Foto: Johannes Förster)

Dein Projektpartner Max Hacke und Du habt ganz frisch den Mies van der Rohe-Award der EU erhalten für das Studierendenhaus in Braunschweig. Herzlichen Glückwunsch dazu! Hat euch der Sieg überrascht? Immerhin waren 362 Bauwerke aus 38 europäischen Ländern nominiert.

Es kam sehr überraschend, ja. Wir haben uns vorstellen können – wenn wir einen Preis bekommen –, dass das Gebäude etwas für den deutschen Stahlbaupreis ist. Immerhin haben wir das Gebäude sehr filigran gebaut und das konstruktive Limit ausgereizt. Dass wir auf europäischer Ebene damit soweit kommen, haben wir nicht gedacht. Unsere Einschätzung von dem Preis war auch immer, dass es etwas Größeres und Komplexeres sein muss, ein Theater oder ein Flughafen. In Deutschland hat uns der Diskurs den Weg für das Projekt geebnet. Dass das Projekt nun beim Mies Award überzeugen konnte, verstehe ich so, dass der Bau als ein prototypisches Gebäude gelesen werden kann, als Vorbild für andere. Unser Haus ist zudem skalierbar, vielfältig nutzbar und könnte an vielen Orten stehen.

Das Projekt ist zunächst mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet worden, kurz darauf mit dem DAM Preis des Deutschen Architekturmuseums und nun mit dem internationalen Architekturpreis der EU. Kann man vielleicht auch sagen, dass Euer Projekt ein tiefes Bedürfnis nach Einfachheit und Ordnung befriedigt, das international auf Resonanz trifft?

Ich glaube, die Menschen wollen gerne ein positives Bild der Zukunft sehen – dass dies z.B. auch mit dem aktuellen Diskurs in Sachen zirkuläres Bauen vereinbar ist, wird als etwas sehr Positives aufgenommen. Ich glaube, es gefällt auch den Jurys, dass wir ein öffentliches Haus gebaut haben, das für alle zugänglich ist aber eben nicht wie viele andere Räume in der Stadt kommerzialisiert ist. Wir wollten mit Raffinesse und einfachen Elementen komplexe und stimulierende Räume schaffen. Oft meint man, das gehe nur mit aufwendigen Baukonstruktionen und Spezialdetails. Baukonstruktion muss aber nicht extravagant sein, um gut zu sein.

Studierendenhaus der TU Braunschweig (Foto: Iwan Baan)

Laut Jurybericht fördert Euer Projekt »den Wandel im gegenwärtigen sozialen, ökologischen und politischen Kontext«. Wie interpretierst Du diese Äußerung?

Das Studierendenhaus ist eine Art Prototyp für ein öffentliches Gebäude. Mit der Zugänglichkeit ist es auch ein Statement, wie man die Zukunft der Stadt denken kann. Wie wäre es zum Beispiel, wenn es dieses Haus in jeder größeren Stadt geben würde, einfach als zugänglicher Raum, wie ein Bürgerhaus oder Gemeindezentrum? Er wäre vollkommen nutzungsfrei, funktioniert dabei als Aufenthaltsraum und stellt ein Gegenmodell dar zu unserem immer mehr etablierten Leben im Digitalen.
In Zukunft könnte man in diesem Zusammenhang auch über klimatisierte Räume sprechen, die einem Schutz vor Naturphänomenen geben wie z. B. überhitzen Stadträumen oder extremen Wetterbedingungen, die in der Zukunft vielleicht mehr eine Rolle spielen. Anders als  Shoppingmalls, die zum Konsum verpflichten wollen, könnte so eine neue Art von Bautyp entstehen, in dem man einfach miteinander sein kann. Dann spielt es keine Rolle, ob man in einem kleinen WG-Zimmer oder in einer Sozialwohnung am Stadtrand lebt, in diesen Räumen kann man in räumlichen Komfort miteinander den Tag verbringen und am städtischen Leben teilnehmen. Würden Städte oder Gemeinden Menschen mehr geschützte Räume bieten, in denen sie tagsüber sein können, wären unsere Ressourcen und Räume auch gerechter verteilbar.

Also ein ganz ungewidmeter Stadtraum, der frei für alle ist und den sich Einzelne oder Gruppen aneignen können temporär, um auch das urbane Leben zu stärken?

Ja, denn wir sehen überall einen Rückgang des Retail, Innenstädte werden weniger attraktiv und man fragt sich, wo sich die Leute überhaupt noch treffen außer im Digitalen. So ein Bautyp könnte eine Bereicherung für das soziale und zwischenmenschliche Miteinander sein. Es hat womöglich auch der Jury gefallen, dass wir eine Haltung gegenüber dem unmittelbaren Stadtraum haben. Jede Stadt ist glücklich über eine große Uni, weil die jungen Menschen eine Art von Urbanität erzeugen, die man sich mancherorts nur wünschen kann. Wir haben auch immer argumentiert, dass die Uni weiterhin einen Grund liefern muss, warum man auf den Campus geht und nicht einfach zu Hause bleibt und digital studiert.

Residenz der Deutschen Botschaft in Tel Aviv (Visualisierung: Gustav Düsing / grau visuals)

Wenn ich Deine bisherigen Architektur- und Kunstprojekte anschaue, sehe ich darin immer wieder eine Suche nach leichten Strukturen und ein Ausloten dessen, was überhaupt gemacht werden muss an einem Ort. In Braunschweig sind das für mich die anpassbaren Räume und Einrichtungen, bei der Botschaftsresidenz in Tel Aviv die Infragestellung und Reduzierung des Raumprogramms auf das Eurer Meinung nach Notwendige. Aus der Kunst wäre es das Zelt, das Du für die Antarktis-Biennale gefertigt hast und auch im Beitrag für die Marrakesch-Biennale, damals noch als Projektarchitekt bei Barkow Leibinger, findet sich das Leichte und Helle. Ist das auch eine Art Demut gegenüber der Umwelt, die Dich prägt?

Das spielt sicherlich eine große Rolle. Es braucht selten opulente Eingriffe, um etwas gut zu machen. Es liegt meiner Meinung nach eine gewisse Schönheit in einer Konstruktion, die so leicht ist, dass man gar nicht glauben kann, dass sie stehen bleibt. Das hat etwas von Magie und man fängt an sich zu fragen wie das funktioniert und wie es gemacht ist. Daraus interpretiert man auch Fähigkeiten, die wiederum als etwas Besonderes wahrgenommen werden. Gleichzeitig verwendet man mit diesen »zarten« Bauweisen automatisch weniger Material. Diese Haltung kommt auch aus meinen Kunstprojekten: Oft müssen wir selber viel finanzieren und bauen. Wenn wir also den Materialaufwand reduzieren, ist es kosteneffizienter und eher realisierbar.

Residenz der Deutschen Botschaft in Tel Aviv (Modellfoto: Leonhard Clemens)

Mit den gestiegenen Materialkosten und Kreditzinsen ist das sicher nicht der verkehrteste Ansatz in der heutigen Bauwelt.

Diese Haltung hat sich in den letzten Jahren als sinnvoll erwiesen, es kann auch eine Art Survival Mode für die Architektur sein. Mich faszinierte schon immer das konstruktive Entwerfen, ich entwerfe keine Lochfassaden und baue auch nicht gern mit Beton. Ich verstehe Bauelemente als Teile eines Baukastens, und wenn sich etwas aus vielen einzelnen Dingen zusammensetzen und konstruieren lässt, macht mir das großen Spaß.

Das ist ja auch das Interessante und Einzigartige an unserer Berufsgruppe als Architektinnen und Architekten. Man interessiert sich für das Detail und das Wie, man denkt sich je nach Projekt immer wieder in ganz neue Themenfelder ein und ist fasziniert von der Vielfalt des Lernbaren. Allein schon die Faszination für das Handwerk hat uns spätestens im Architekturstudium ergriffen und man gestaltet auch immer den Prozess mit bei der Gestaltung.

Dazu habe ich gerade ein Beispiel vom Projekt in Marrakesch: Wir hatten 150 km Seil und mussten es innerhalb von zwei Wochen um die Konstruktion wickeln. Bei fünf Leuten im Team waren das 30 km pro Person. Also kam erstmal die Frage auf, wie viel denn jeder an einem Tag laufen kann? Wir fingen an, haben getestet, und schließlich den Abstand der Seile erhöht, damit wir schneller werden. Wir hatten kleine Spulen, mit denen wir unterwegs waren, und immer wieder optimierten wir alle Abläufe. Das, was schlussendlich steht, ist immer ein Resultat von dem, was an Ressourcen zur Verfügung steht. Man fängt automatisch an, den Umständen entsprechend zu gestalten.

»Loom Hyperbolic« von Barkow Leibinger, Biennale Marrakesch, 2012 (Foto: Johannes Förster)

Ressourcenbewusstsein ist ein wichtiger Teil des heutigen Bauwesens. Ist das etwas, was Dir schon in der Ausbildung vermittelt wurde? Du hast damals in Stuttgart und London studiert und in den vergangenen Jahren auch immer wieder selbst gelehrt, kennst also viele Haltungen von Schulen. Öffnet sich das Studium heute ausreichend in die Breite, also geht es weg von den klassischen »Hier habt ihr Parzelle und Raumprogramm«- Semesteraufgaben?

Ich bin mir leider nicht sicher, ob das schon ausreichend durchgedrungen ist. Ich kenne auch viele Lehrstühle, die ihre Entwurfsaufgaben noch sehr oldschool durchziehen. Wenn ich unterrichte, versuche ich maximal experimentell zu sein, neue Fragen einzubringen und die Studierenden zu inspirieren eigene Wege zu gehen. 
Machmal kommt es mir jedoch so vor, als ob die Architekturdisziplin und auch die Lehre aus Pflichtbewusstsein der Umwelt gegenüber so sehr die Nachhaltigkeitsfrage in den Mittelpunkt stellt, dass räumliche Qualitäten, Gestaltung und die Frage nach dem, was in diesen Räumen passiert, zweitrangig werden. Es entsteht ein materialtechnischer Diskurs, den ich mehr im Ingenieurbereich sehe als bei der Architektur. Aus meiner Sicht sollte eine maximale Nachhaltigkeit von Architektur vorausgesetzt werden und wieder mehr über Gestaltung gesprochen werden.

»Frozen Tent«, Antarktis-Biennale 2017 (Foto mit freundlicher Genehmigung von Gustav Düsing)

Neben dem Bauen und der Kunst widmest Du Dich der Bau- und Materialforschung. Erkenntnisse daraus fließen wiederum zurück in Deine Projekte. Ist damit für Dich ein idealer Dreiklang erreicht, vielleicht gar ein Ideal, das mehr Architekturschaffende anstreben sollten, um aktiver am Puls der Zeit zu bleiben?

Ich betrachte das Spektrum der Architektur jeweils zwischen Kunst und Dienstleistung. Positioniert man sich zu sehr an einem Extrem, ist das nicht hilfreich. Wenn man z. B. mal lange im Bereich der Dienstleistung war, sollte man sich selber wieder neue Aufgaben stellen und sein Interesse schärfen, damit es spannend bleibt und man zum aktuellen Diskurs beitragen kann. Wer stets nur reagiert, bleibt immer der Ausführende.

Man solle bei der Arbeit den Spaß am Entwerfen nicht verlieren, sagtest Du mal. Wie erhältst Du Dir ebendiesen Spaß im Alltag? Ist es die Balance aus Kunst- und Architekturprojekten?

Bisher hatte ich das Glück, dass ich meistens nicht parallel an mehreren Projekten arbeiten musste. Jedes Mal, wenn eines abgeschlossen war, konnte ich ein neues beginnen. Ehrlich – wir haben im letzten Jahr nur drei Wettbewerbe gemacht und alle drei gewonnen, was irgendwie auch absurd ist. So kam nach Braunschweig Tel Aviv, dann ein Wettbewerb für eine Brücke in Bayern und gerade erst haben wir den Wettbewerb für einen großen Hochschulbau gewonnen. Jedes Projekt hatte seinen eigenen Themenstrang, und immer wieder werden Themen, die wir im vorherigen Projekt nur anreißen konnten, im nächsten Entwurf tiefer entwickelt, neu angewendet und womöglich auch im nächsten Kunstprojekt thematisiert. Für mich gibt es zwischen diesen Projekten ob im Kunstkontext oder in der Architektur, eigentlich keinen Unterschied, es geht immer um Raum, Material und Struktur.

Herzlichen Dank für das Gespräch und eine gute Zeit in Barcelona, wo ihr am 14. Mai den Mies van der Rohe-Award im Empfang nehmen könnt.

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